© Noorullah Shirzada/​AFP/​Getty Images

Die Entwicklungen in Afghanistan in den letzten Tagen können bei uns nur Entsetzen wecken. Dabei darf es uns nicht überraschen. Wer die Vielzahl an Analysen, die uns Fernsehdokumentationen, Monographien und Vorträge von vor Ort tätig gewesenen Erfahrungsträgern in den letzten zwei Jahrzehnten angeboten haben, in Betracht zieht, kann mit klarem Verstand nichts anderes erwartet haben. Das gilt insbesondere für unsere politischen Spitzen.

Mit welchem Auftrag haben zunächst die Kabinette Schröder, dann die Kabinette Dr. Merkel Soldaten und Hilfsorganisationen in dieses Land geschickt bzw. zwei Jahrzehnte finanziert? Es ging doch für unsere Regierungen um mehr, als nur einen Rückzugsraum für Terroristen zu besetzen. Wir wollten Infrastruktur, freie Medien, Versorgungssicherheit, Bildung, Freiheit und Menschenrechte unter den gegebenen kulturellen Bedingungen in dieser Region etablieren.

Jedem musste stets klar sein, das Afghanistan keine Nation nach unserem Verständnis ist. Die Vielzahl von Ethnien, Religionen und Gesellschaften, in denen der Clan die oberste Instanz ist und nicht der Staat, schlossen von jeher ein stabiles, verlässliches Staatswesen aus. Insofern man dies quasi unter Druck etablieren wollte, reichten dafür zwei Jahrzehnte sicherlich nicht aus.

59 Soldaten haben in Afghanistan ihr Leben gelassen, viele mehr wurden verwundet und sind nachhaltig gesundheitlich versehrt zurückgekehrt. Das ist tragisch. Allerdings ist das ein Preis, über den der Deutsche Bundestag wohl abgewogen immer wieder disponiert hat. Das ist auch Aufgabe von Regierung und Parlament. Wir erleben solche Abwägungsprozesse seit eineinhalb Jahren am eigenen Leib. Die Regierungen der Länder haben tausende Leben gegen Freiheit und Wirtschaft in der Pandemie abgewogen und sich immer wieder auch gegen die Leben und die Gesundheit einzelner entschieden. Das ist eben auch Aufgabe von Politik.

Die Diskussion, die in den vergangenen Wochen geführt wird, um die Sicherheit der Deutschen in Afghanistan, um die Aufnahmen von Ortskräften in Deutschland u.a. ist sehr unvollständig. Es kann auch nicht allein darum gehen, wie das kommende Regime unter dem Primat der Scharia straft, was im Übrigen in anderen mit Deutschland verbündeten Staaten im Nahen Osten nicht viel anders ist. Viel mehr hat auch Deutschland den Kindern, den Jugendlichen, den jungen Menschen, den jungen Erwachsenen bis ins mittlere Alter über zwei Jahrzehnte eine Zukunft vorgegaukelt, die es nun nicht mehr geben wird. Wir zerstören Hoffnungen, Vertrauen, Leben.

Ich weiß nicht, ob den älteren Damen und Herren in der Bundesregierung, in den Fraktionsführungen im Deutschen Bundestag, in den Parteiführungen heute klar ist, was sie den Kindern, insbesondere aber Mädchen und Frauen in Afghanistan heute antun. Wir verraten in diesen Tagen unsere eigene Kultur, die Geschichte der Aufklärung, die Lehren aus dem Holocaust, all das worauf unser Deutschland nach 1945 begründet ist. Wir verraten unsere eigene Identität. Ich schäme mich in diesen Tagen für unser Land.